Neue Sherlock-Holmes-Anthologie
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„Glauben Sie an Geister?“ Diese Frage ist ein guter Beginn für klassische Gruselgeschichten, in Großbritannien wird darüber auch ganz ernsthaft beim Feierabend-Drink diskutiert. Durchschnittlich ein Drittel der britischen Bevölkerung ist noch immer fest von der Existenz des Paranormalen überzeugt, und es gibt kaum einen Landstrich ohne wenigstens einen Höllenhund, Schlossgespenst oder Poltergeist. Bekannterweise war Sir Conan Doyle ein Anhänger des Spiritismus und ließ sich von den unheimlichen Legenden im Dartmoor für den „Hund der Baskervilles“ inspirieren. Im Gegensatz zu seinem Schöpfer hat Sherlock Holmes ein ausschließlich wissenschaftliches, praktisch-empirisches Weltbild. Zu Beginn des „Vampirs von Sussex“ betont er gegenüber Dr. Watson: „This agency stands flat-footed upon the ground, and there it must remain. The world is big enough for us. No ghosts need apply“.
Ganz ähnlich denkt Agatha Christies belgischer Meisterdetektiv Hercule Poirot, dessen „kleine graue Zellen“ jegliche Unordnung ablehnen – und was wäre unordentlicher als ein kopfloser Ritter, der in stürmischen Nächten durch vermauerte Türen schreitet? Der 31. Poirot-Roman „Hallowe’en Party“ (1969, dt. „Die Schneewittchen-Party“ 1971) spielt im fiktiven Ort Woodleigh Common, irgendwo im Südwesten Englands. Christie verarbeitete ihre eigenen glücklichen Kindheitserinnerungen und beginnt die Handlung mit einem Gesellschaftsfest zu Halloween am 31. Oktober, der Nacht auf Allerheiligen (engl. All Hallows). Zu den erwachsenen Gästen gehört auch die exzentrische Kriminalautorin Ariadne Oliver, mit der sich Agatha Christie gekonnt selbst parodierte. Während die Kinder Gruselgeschichten, traditionelle Spiele und Süßigkeiten genießen, verkündet das etwas quengelige Mädchen Joyce Reynolds lauthals, es hätte einmal einen Mord beobachtet und kenne den Täter. In einem unbeobachteten Moment wird das Kind in einer Wanne mit Äpfeln für das „Schnappdrachen“-Spiel umgebracht. Die Polizei ist wie üblich ahnungslos, daher bittet Ariadne Oliver ihren Freund Hercule Poirot um Hilfe. Es sei bereits vorweggenommen, dass nach vielen Wendungen die Gastgeberin Rowena Drake selbst als Täterin überführt wird, wobei der grausame Tod des Mädchens nur weitere Verbrechen vertuschen sollte.
Halloween war ursprünglich das keltische Fest Samain, eines der vier Hochfeste der Stämme Britanniens und Galliens. In jener Nacht, so die Überzeugung, würden die Grenzen zwischen Diesseits, Jenseits und Anderwelt verwischen. Opfergaben sollten Dämonen und böse Geister besänftigen, die Druiden zelebrierten ihre heiligen Rituale und flehten um Fruchtbarkeit im kommenden Jahr. Angereichert mit vielen weiteren Bräuchen und christlichen Motiven, wurde Samhain im Lauf der Jahrhunderte zum modernen Volksfest. So weit, so gut, doch spielt dieser übernatürliche Aspekt in Christies Roman eine sehr untergeordnete Rolle. Hauptsächlich bietet er eine Begründung dafür, wieso viele Kinder und Erwachsene gleichzeitig in einem Raum versammelt sind.
Der Kinofilm „A Haunting in Venice“ geht einen ganz anderen Weg. Regisseur Kenneth Branagh, der auch ein weiteres Mal als Hercule Poirot vor der Kamera stand, entschied sich bei seiner dritten Poirot-Adaption nach „Mord im Orient Express“ (2017) und „Tod auf dem Nil“ (2022) für diesen, der breiten Öffentlichkeit eher unbekannten Kriminalroman. Der Filmtitel ist eine bewusste Hommage an viktorianische Schauerromane, sogenannte Gothic Novels. Er wurde hierzulande nicht übersetzt, zumal das äquivalente Wort „Spuk“ nicht die gleiche unheilschwangere Bedeutung hat. Kenneth Branagh stellt das übernatürliche Element in den Vordergrund und unternimmt den Versuch, eine klassische Kriminalgeschichte mit Elementen des okkulten Horrorfilms zu verweben. Er lehnt sich dabei nur sehr frei an die literarische Vorlage an: Sein Hercule Poirot hat sich nach Venedig zurückgezogen, wo ihn Ariadne Oliver (Tina Fey) bittet, sie zu einer Séance im Palazzo der Operndiva Rowena Drake (Kelly Reilly) zu begleiten. Diese will mithilfe des Mediums Joyce Reynolds (Michelle Yeoh) Kontakt zu ihrer Tochter Alicia (Rowan Robinson) aufnehmen, die anscheinend Selbstmord beging. Wie Poirot erst im Laufe der Handlung aufdeckt, hatte sich Oliver nach einer Serie von Misserfolgen mit Reynolds abgesprochen, damit sie ein neues Buch über den großen Misserfolg des Meisterdetektivs schreiben kann. Tatsächlich verdanken sich Poirot und Oliver wechselseitig ihre Bekanntheit und damit auch ihr Auskommen, daher willigt Poirot trotz seiner Skepsis ein. Sie erreichen mit einer Gondel das morbide Gemäuer und nehmen an einer gewaltigen Halloween-Feier für die Kinder aus einem nahen Waisenhaus teil. Die einzelnen dramatis personae werden vorgestellt, anschließend beginnt die Geisterbeschwörung und damit auch die Haupthandlung des Films. Nach einem Mordanschlag auf Poirot und einer Leiche riegelt dieser das Haus ab und schafft damit die Situation eines „locked-room-mysterys“.
Nach einer weiteren Leiche und allerlei paranormalen Tohuwabohu kann er den Überlebenden seine Lösung präsentieren, die von der literarischen Vorlage deutlich abweicht. Das Tatmotiv ist aus psychologischer Sicht jedoch absolut plausibel, und die Mordmethode beruht auf wissenschaftlichen Tatsachen. Gedreht wurde vor Ort in Venedig; die berückende Schönheit der Lagunenstadt wird gekonnt in Szene gesetzt, zumal die Kanäle und Gassen durch geschickte Kameraeinstellungen und eine digitale Bearbeitung beinahe absurd menschenleer sind. Möglicherweise nahm sich Kenneth Branagh die Kritik an den unrealistischen CGI-Landschaften im Vorgänger „Tod auf dem Nil“ so sehr zu Herzen, dass er dieses Mal auf Nummer sicher gehen wollte. Für das Spukschloss diente der venezianische Palazzo Grioni als Vorbild, es wurde jedoch als großes Modell in den Pinewood Studios außerhalb Londons nachgebaut, wo auch die Innenaufnahmen entstanden.
Der Film lebt zum großen Teil von den großartigen Szenenbildern des Production Designers John Paul Kellys. Die Schauspieler bewegen sich durch ein Spiel aus Licht und Schatten, in denen jedes Detail eine dunkle Bedrohung ausstrahlt. Die reiche Ausstattung wirkt dabei organisch, nichts scheint gestellt oder drapiert. Man merkt der Kameraarbeit von Haris Zambarloukos seine künstlerische Ausbildung zum Maler an, denn er kreiert lebende Tableaus von großer Symbolkraft und folgt der zeitweiligen Verwirrung des Meisterdetektivs mit überraschenden Einstellungen. Branaghs Poirot ist ein Zyniker und Atheist, traumatisiert durch die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg. Hier liegt mithin auch der größte Unterschied zu David Suchet, der Poirot in über 70 Folgen für die Granada TV-Serie „Agatha Christie‘s Poirot“ personifizierte. Suchet betonte durch viele subtile Hinweise, manchmal aber auch sehr offen den katholischen Glauben Poirots, der das Fundament seines Gerechtigkeitssinnes bildet. Im Katholizismus gibt es keine Geister, wohl jedoch die Mächte des Bösen, die auch in der Gestalt von lebenden und toten Menschen in Erscheinung treten können. Daher ist Hercule Poirot in der Granada-Verfilmung von „Halowe’en Party“ aus dem Jahr 2011 sichtlich angewidert und würde es lieber sehen, wenn man auch in England die Verstorbenen mit Kerzen und stillen Gebeten ehren würde. Dieser religiös-kulturelle Hintergrund wird nun in „A Haunting in Venice“ leider vollständig ausgeblendet. Im katholischen Italien des Jahres 1948 war Halloween noch völlig unbekannt, auch wenn dort stationierte US-amerikanische Soldaten gewiss eigene Feiern veranstalteten. Es ist zudem völlig absurd, dass zu jener Zeit ausgerechnet Ordensschwestern ihre Schützlinge zu einem Fest bringen, das sich den Mächten der Dunkelheit widmet. „A Haunting in Venice“ krankt außerdem an einem mäandernden Drehbuch, wenig überzeugenden Wendungen und diversen Handlungssträngen, die einfach ins Leere laufen. Das Schlimmste ist jedoch, dass sich Drehbuchautor Michael Green nicht entscheiden konnte: Sollte der Film ein Thriller werden, ein nostalgischer Whodunit-Krimi oder ein okkulter Horrorfilm? Heraus kam ein Genremix, dessen einzelne Stärken sich leider oft gegenseitig relativieren. Die Schockelemente beschränken sich nach einem sehr gelungenen ersten Akt auf die üblichen vorhersehbaren Jumpscares und entpuppen sich am Schluss als Halluzinationen unter Drogeneinfluss. Das kann jedoch bei Weitem nicht alle gezeigten paranormalen Vorgänge erklären und lässt das Publikum etwas enttäuscht zurück. So ist der Film wenig mehr als ein mit 104 Minuten recht lang geratenes Fest fürs Auge, mit großen Schauwerten und einem relativ indifferenten Abgang. Angesichts des derzeitigen Zustandes von Hollywood wird es wohl auf absehbare Zeit keinen vierten Poirot geben. Das ist vielleicht auch besser so, denn die Reihe verkommt zu einem reinen Vanity Project von Kenneth Branagh: Zu oft drängt er sich mit übertrieben langen Nahaufnahmen in den Mittelpunkt, außer Michelle Yeoh sind dieses Mal auch keine namhaften Darsteller dabei, die Branagh das Rampenlicht stehlen könnten. Im Epilog scheint er sich dann gar nicht mehr von seiner Hauptrolle lösen zu können, gefühlt reihen sich vier Schlussszenen aneinander. Branaghs Trilogie kann jedoch immerhin den Verdienst in Anspruch nehmen, dass sie die großartigen Kriminalromane der „Queen of Crime“ Agatha Christie etwas aufgepeppt und verjüngt einer neuen Generation von Kinogängern zugänglich gemacht hat.